Mein Eindruck ist, und Erfahrungen von Christen z. B. in den USA bestätigen dies, dass zurzeit kaum ein Thema so geeignet ist zu polarisieren, wie dieses Thema. Gemeinden trennen sich wegen der Frage des Umgangs mit gleichgeschlechtlich Lebenden. Man hat den Eindruck, an dieser Frage scheiden sich die Geister.
Auch bei „Kirche für morgen“, einer kirchenpolitischen Gruppierung in der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, die sich für die Erneuerung der Kirche einsetzt (Näheres unter www.kirchefuermorgen.de), haben wir lange zum Thema Umgang mit Homosexualität in der Kirche geschwiegen. Uns war klar, wenn das Thema auf die Tagesordnung kommt, dann wird das ein schwieriger Prozess, gerade weil wir uns dabei nicht einig sind. Als das neue Pfarrerdienstrecht der EKD auch in Württemberg auf der Tagesordnung stand, konnten und wollten wir uns nicht mehr davor drücken. Und so entstand ein langer, ja auch schwieriger Prozess, mit vielen Gesprächen mit Betroffenen, aber auch theologischen Gesprächen anhand biblischer Texte.
Die einen zitieren Bibelstellen aus 3. Mose und Korintherbrief, andere berufen sich auf die Schöpfungstexte und die Ehe aus Mann und Frau als Schöpfungsordnung, um klar zu sagen: In der Bibel wird Homosexualität verurteilt. Die anderen erwähnen, dass Jesus kein einziges Wort zum Thema Homosexualität sagt und argumentieren, dass es meist um das Abwehren einer homosexuellen Beziehung neben einer heterosexuellen Ehe ging und das Thema der anderen Polarisierung damit gar nicht gemeint war.
So weit ging bei uns die Diskussion auch mit intensivem Fragen, mit runden Tischen mit Betroffenen, mit Raum zum Gespräch und Gebet.
Und trotz wechselseitigem Zuhören und Gebet wurden wir uns in dieser Frage nicht einig.
Dann haben wir uns eine Situation aus der Urgemeinde vor Augen geführt: Wie sind die dort mit Konflikten umgegangen, in denen sie sich nicht einig werden konnten? Das war damals die Frage des Essens von Götzenopferfleisch: Die einen sagten: Kein Problem, dem Reinen ist alles rein. Nicht was in den Mund hineingeht, macht uns unrein, sondern was aus dem Mund herauskommt. Die anderen sagten: Wie könnt ihr Fleisch, das anderen Göttern geweiht wurde, das dem Herrn ein Gräuel ist, wie könnt ihr, die ihr an den einen Gott in Jesus Christus glaubt, das essen? Und es entstand ein heftiger Konflikt, der fast zur Gemeindespaltung geführt hätte.
In diese Situation schreibt Paulus in 1.Korinther 8,7 ff.: Das Wichtigste ist die Auferbauung der Gemeinde und nicht die Frage, wer recht hat. Deshalb war er selbst der Meinung: Es schadet nichts, Götzenopferfleisch zu essen, aber wenn hier welche sind, die das mit ihrem Gewissen nicht vereinbaren können, dann sollen alle darauf verzichten, weil es um die Auferbauung der Gemeinde geht und weil die gelebte und erlebte Mahlgemeinschaft wichtiger ist als die Frage, wer hier recht hat.
Zuerst haben wir uns gefragt: Worin sind wir uns einig? Und wir haben sehr viel gefunden, worin wir uns einig sind:
- Wir waren uns einig, dass die Ehe von Mann und Frau von Gott eingesetzt ist und andere Lebensformen nicht einfach gleich sind, sondern wenn, dann davon zu unterscheiden sind.
- Wir waren uns auch einig: Treue und Verlässlichkeit, Verbindlichkeit und wechselseitige Verantwortung ist für jede Beziehung ein wichtiges Kriterium aus christlicher Sicht.
- Wir waren uns auch einig, dass keiner von uns die homosexuelle Neigung als Sünde sieht, dass keiner von uns Menschen mit dieser Neigung verurteilen will.
- Wir waren uns einig, dass beide Positionen bei uns im ernsthaften Ringen mit der Heiligen Schrift zustande gekommen sind und wir uns deshalb nicht wechselseitig mit K.o.-Argumenten ausgrenzen („Wenn du das anders siehst, bist du kein Christ“ oder: „Wie kann man nur so verbohrt und fundamentalistisch sein“).
- Wir waren uns einig, dass keiner von uns für sich in Anspruch nehmen will, in dieser Frage ganz sicher zu sein, dass man im Recht ist. Das war ein wichtiger Schritt für uns alle: Ich bin nicht unfehlbar und mein Erkennen und mein Wissen ist Stückwerk und vorläufig. Deshalb habe ich zwar eine Überzeugung in dieser Frage, aber ich will mir und auch dem Anderen zugestehen, dass wir beide irren können.
- Deshalb haben wir dann auch gesagt: Wir wollen diese Frage nicht zur Bekenntnisfrage machen: Das, was uns verbindet, ist der Glaube an den dreieinigen Gott, der Glaube an Jesus Christus, der für uns gestorben und auferstanden ist und das verbindet uns so tief, dass Unterschiede uns hier nicht auseinanderbringen können.
- Die Einen sehen es auch als Möglichkeit an, dass es gleichgeschlechtlich gelebte Partnerschaft mit Treueversprechen geben kann, die Anderen sagen: Aus meiner Sicht geht das nicht, weil gelebte Homosexualität Sünde ist.
- Die Einen sagen: Es kann auch Pfarrer und Pfarrerinnen geben, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben – für die Anderen ist das unvorstellbar.
- Die Einen sagen: Homosexualität kann auch manchmal ein Durchgangsstadium sein, die Anderen sagen, es ist eine Prägung, zu der man Ja sagen muss und kann und man solchen Menschen den Raum geben muss und darf, in der Verantwortung vor Gott auch ihre Sexualität zu leben.
- Weil wir uns klargemacht haben: Wir wähnen uns – in dieser Frage – nicht im Besitz der Wahrheit, deshalb können und wollen (!) wir die Unterschiedlichkeit hier aushalten, erdulden, ja tolerieren, erleiden!
- Wir lassen uns durch diese Frage nicht auseinanderdividieren, weil das ganz sicher nicht evangeliumsgemäß wäre: „Dass sie alle eins seien“ (Joh 17).
Das wäre das Schlimmste, was passieren könnte, wenn wir wegen dieser Frage auseinandergingen.
- Uns ist dabei sehr wichtig, dass wir in unseren Gemeinden eine solche Atmosphäre schaffen, dass Menschen darüber reden können, übrigens auch darüber, wenn sie den Wunsch haben – und das gibt es auch – hier anders fühlen zu können und sie mit ihrer sexuellen Neigung unglücklich sind.
- Aber auch die, die in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung leben oder leben wollen. Hier ist die Frage: Wie erleben diese Menschen unsere Gemeinden? Sind sie ausgegrenzt? Vorverurteilt? Oder gar so eingeschüchtert, dass sie sich nicht mehr trauen, über ihre Situation, ihr Fühlen und Empfinden, oder auch über ihre Lebensform, in unseren Gemeinden und Gruppen und Kreisen zu reden, weil sie Verurteilung und Ausgrenzung fürchten?
- Dennoch: Es entbindet keine Gemeinde, hier in manchen Situationen Entscheidungen treffen zu müssen:
- Wollen wir einen Pfarrer oder eine Pfarrerin haben, die in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung leben oder nicht?
- Hier bin ich der Meinung, dass darüber bei der Anstellung offen geredet werden muss. Und dabei dann auch Mehrheitsentscheidungen, die dann von allen mitgetragen werden, getroffen werden können müssen – gerade weil jede und jeder sich ihrer Fehlerhaftigkeit bewusst ist.
- Wie gehen wir mit Mitarbeitern um, die sich „outen“ schwul oder lesbisch zu sein?
- Hier möchte ich noch einen grundsätzlichen Aspekt zum Thema einbringen:
Bei welchem anderen Bereich – außer dem der Sexualität – sind wir eigentlich der Meinung, hier jemand wegen seiner Lebensweise ausschließen zu müssen? Wer hat schon einen Mitarbeiter entlassen, weil er ein Auto fährt, das die Schöpfung verpestet? Oder wer forscht nach, ob es in der Gemeinde Leute gibt, die Steuern hinterziehen oder die in ihrer Firma die Mitarbeiter schlecht behandeln? Wer hat schon bei jemand grundsätzliche Bedenken, ihn in der Gemeinde mitwirken zu lassen, weil er sehr reich ist und das auch offen zeigt? Das alles sind Bereiche, in denen die Bibel und auch insbesondere Jesus die Messlatte sehr hoch legt und wir alle dabei immer wieder schuldig werden. Wieso aber denken wir, dass dann – selbst wenn wir der Meinung wären, dass gelebte Homosexualität Sünde ist, hier anders zu verfahren ist? Und da sind mir schon einige Fälle begegnet: Da darf einer, der es seinem Leiter mitgeteilt hat, auf einmal nicht mehr als Mitarbeiter aufs Jungscharlager. Da versuchen treue Gemeindeglieder es möglichst zu verheimlichen, dass sie in einer festen gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben, weil sie Angst haben, komisch angeschaut zu werden. Ich hab noch keinen gesehen, der im Geländewagen zur Kirche vorfährt und deshalb Angst hatte, komisch angesehen zu werden. Warum aber hier? Wie gehen wir hier mit unseren Mitchristen um?
Keiner wähnt sich im Besitz der alleinigen Wahrheit. Und wir hören uns gegenseitig ohne Vorverurteilungen zu und gewinnen vielleicht so ein besseres Verständnis füreinander – mit unterschiedlichen Positionen im Vertrauen auf den einen Heiligen Geist, der uns in Jesus Christus und durch Jesus Christus verbindet – um der Einheit des Leibes Christi willen und im Wissen um seine Liebe zu mir und zu jedem anderen Sünder in der Gemeinde.
Die im Folgenden aufgeführten Positionen der „Kirche für morgen“ zu dem Thema entstanden 2011 nach einem langen Gesprächsprozess zum Thema, an dem sich Betroffene aus ganz unterschiedlichen Perspektiven und Lebensweisen beteiligten. Sie können als Beispiel auch für den eigenen Umgang mit unterschiedlichen Meinungen, Erkenntnissen und Überzeugungen dienen:
- Es gibt bei Kirche für morgen zum Umgang mit gelebter Homosexualität unterschiedliche Positionen. Es gibt sowohl Menschen, die gelebte Homosexualität aufgrund des Zeugnisses der Heiligen Schrift ablehnen, als auch welche, die dies aufgrund des biblischen Zeugnisses für möglich halten.
- Die Position zum Thema Homosexualität ist bei „Kirche für morgen“ nicht Status confessionis, d. h. wir verstehen dies als eine ethische Fragestellung, bei der Christen in unserer Kirche und bei „Kirche für morgen“ zu unterschiedlichen Positionen kommen können, obwohl wir uns zu dem gleichen Herrn bekennen.
- Wir anerkennen wechselseitig, dass die jeweils andere Position ihre Entscheidung in dieser Frage im ernsthaften Ringen mit der Heiligen Schrift theologisch verantwortlich getroffen hat und akzeptieren uns deshalb als Geschwister auch mit unterschiedlichen Erkenntnissen in dieser Frage.
- Wir leiden einerseits darunter, dass wir keine gemeinsame Position finden konnten, gleichzeitig sehen wir es als Chance für unsere Landeskirche. Die Aufgabe der Zukunft für unsere Kirche wird nämlich sein – ähnlich wie bei der Frage des Essens von Götzenopferfleisch in der ersten Christenheit – hier die Unterschiedlichkeit auszuhalten und einen Weg zu finden, der unterschiedliche Positionen toleriert, sodass dadurch die Einheit der Gemeinde gewahrt bleibt.
- Wir nehmen wahr, dass es Menschen in unserer Kirche gibt, die sich wünschen, auch mit ihrer gelebten Homosexualität in der Kirche akzeptiert und geachtet zu sein, egal ob sie Haupt- oder Ehrenamtliche, Pfarrer/Innen oder anders Angestellte in unserer Landeskirche sind. Wir nehmen auch wahr, dass es in unserer Kirche Menschen gibt, die unter ihrer Homosexualität leiden und sich eine Veränderung ihrer Prägung wünschen oder Veränderung erfahren haben. Beiden wollen wir den Raum für kompetente seelsorgerliche Beratung eröffnen. Wir unterstützen deshalb, dass z. B. Gruppen wie Wüstenstrom e.V. und Zwischenraum als Beratungsangebote im Handbuch für Kirchengemeinderäte genannt werden.
- „Kirche für morgen“ hat sich schon immer für die Eigenverantwortung von Gemeinden stark gemacht. Deshalb sind wir auch dafür, dass jede Gemeinde eine freie Entscheidung über ein pro oder contra zu einem schwulen Pfarrer / einer lesbischen Pfarrerin in ihrem Pfarrhaus haben kann.
- Eine homosexuelle Partnerschaft kann nicht gleichgesetzt werden mit der Ehe von Mann und Frau, die in der Bibel als Schöpfungsordnung bezeugt wird. Wenn es eine Segnung von Homosexuellen geben sollte, dann ist sie nicht dasselbe wie eine kirchliche Trauung.
- Wir gehen bei einem homosexuellen Paar auch von einem gegenseitigen Treueversprechen mit Verantwortungsübernahme aus. Eine öffentlich ausgesprochene Verbindlichkeit (eingetragene Lebenspartnerschaft) zu Treue und Verantwortlichkeit muss bei homo- und heterosexuellen Partnerschaften vorliegen.
- Wir lehnen jegliche kämpferische Intoleranz ab – sowohl mancher Schwulen- und Lesbenverbände als auch mancher vermeintlich „rechtgläubiger Scharfmacher“.
- Wir sind uns bewusst, dass wir – insbesondere auch in Fragen der Sexualität – der Gnade Gottes bedürfen und unser Wissen – auch in dieser Frage – Stückwerk ist. Wir leben von der Vergebung.
- Autor / Autorin: Friedemann Stöffler
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