Sexualität warnend wertschätzen

Am Beispiel von sexuellem Missbrauch

Didaktische Vorüberlegungen

Missbrauchte Kinder leben in einer Konfliktlage widersprüchlicher Gefühle. Zentral ist dabei oft, dass sich die Mädchen für Mitwisser und mitverantwortlich für das halten, was passiert. Da der Täter in 50% der Fälle aus dem Nahfeld kommt (Helmut H. Koch, Marlene Kruck: „Ich werd’s trotzdem weitersagen! Prävention gegen sexuellen Missbrauch in der Schule (Klassen 1–10)“, Münster 2000, S. 35.), oft von dem Kind geschätzt und geliebt wird, scheuen sich Opfer häufig, den Täter zu konfrontieren. Dadurch aber wird eine Aufarbeitung der Folgen des Missbrauchs erschwert bis unmöglich gemacht.

Anliegen dieses Stundenentwurfs ist es, Jugendlichen, die auf Missbrauchserfahrungen zurückschauen, eine freundliche Einladung auszusprechen, Dinge zu verarbeiten. (Laut Untersuchungen im Dunkelfeld müssen wir davon ausgehen, dass mindestens 10,7 % der Frauen und 3,4 % der Männer auf Missbrauchserfahrungen zurückblicken. Andere Untersuchungen zeigen Häufigkeiten zwischen 12,5 % und 29 % bei Frauen und zwischen 4 % und 8,2 % bei Männern. Peter Zimmermann u. a.: Sexualisierte Gewalt gegen Kinder in Familien. Expertise im Rahmen des Projekts „Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen“, München 2010, S. 11 ff.)

Als Beitrag zur Prävention sollten zugleich potenzielle Täter über die Folgen von Missbrauch aufgeklärt sowie Mädchen und Jungen, die später von anderen Jugendlichen über entsprechende Verletzungen ins Vertrauen gezogen werden, sensibilisiert werden. (Eine Zunahme jugendlicher Straftäter zeigen die polizeilichen Statistiken. 1993 – 2008 verdreifachte sich die Zahl der jugendlichen Tatverdächtigen von Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Bei den Übergriffen an Kindern sind 69 % der Täter über 21 Jahre, 8 % zwischen 18 und 21 Jahre, 15 % zwischen 14 und 18 Jahre und 8 % zwischen 8 und 14 Jahre alt. Landesverwaltungsamt Sachsen-Anhalt (Hrsg.): Sexuelle Übergriffe zwischen Kindern und Jugendlichen. Orientierungsleitfaden zum Erkennen, Stoppen, Verhindern im Rahmen erzieherischer Hilfen.)

Wird allerdings über Sexualität ausschließlich problematisierend gesprochen, fällt es Teenagern schwer, ein positives Bild von Sexualität aufzubauen.

Schritt 1: Sexualität als Geschenk

Der Jugendleiter wählt einen eigenen lockeren Einstieg zu Liebe und Erotik. Es kann ein Clip aus einem Film sein, ein Gedicht oder ein paar Verse aus dem Hohelied.

Nachdem der Jugendleiter Sexualität gewürdigt hat, fragt er die Teenager danach, welchen Sinn Gott in Sexualität gelegt hat. „Wozu das Ganze?“ Nach meiner Erfahrung sagen die Jugendlichen fast immer zuerst Nachwuchs, Kinder, Fortpflanzung und als zweites Spaß, Freude aneinander und miteinander.

Manchmal kommt es vor, dass findige Jugendliche weitere Funktionen der Sexualität nennen können:

  1. Sprache, Ausdruck von Liebe und Zuneigung, Kommunikation
  2. Entstehung von Geheimnis und Bindung, was die Beziehung stabil macht und nach außen vor dem Eindringen Dritter schützt
  3. Entstehung einer Dynamik, die für immer neue Spannung sorgt
  4. Beides führt dazu, dass die Ehe und Familie Bestand hat und somit auch für die gemeinsamen Kinder ein Schutz- und Versorgungsraum entsteht
  5. Eigentlich kommen Jugendliche nie darauf, dass Sexualität auch für den einzelnen Funktionen erfüllt:
    1. Sie ist entspannend
    2. Sie erfüllt unbekannte Sehnsüchte und Motive (Wunsch nach Geborgenheit, Zärtlichkeit, Macht, Potenzial, wahrgenommen sein, Bestätigung u. a.)

Dieser erste Schritt dient dazu, Sexualität nicht in einem problematischen Koordinatensystem zu behandeln, sondern den Korridor zu Gottes großartiger Idee wertschätzend zu beleuchten, damit ins Herz der Teenager auch der Wunsch gesät wird, exzellente Beziehungen anzustreben.

Schritt 2: Das Gelingen der Sexualität ist gefährdet

Auf dem nächsten Gedankenschritt muss der Leiter die Teenager mitnehmen. Vonseiten der Teenager „fällt Liebe und Sexualität“ irgendwie vom Himmel. Sie vergessen, dass sie biografischen Prägefaktoren ausgesetzt sind. Ich habe in zig Jugendgruppen über Sexualität gesprochen, und es hat sich bewährt, den Jugendlichen an dieser Stelle einen klaren roten Faden plausibel zu machen. Es folgen teilweise „Formulierungsvorschläge“, die der Leiter natürlich in die ihm eigene Sprache übersetzen muss.

a) „Es wird sicherlich keinen von uns geben, der plant, irgendwann keine schöne, sondern eine konfliktreiche Sexualität zu haben.“

b) „Aber wir vergessen immer gern, dass unsere sexuelle Entwicklung nicht automatisch gelingt. Da kann einiges schieflaufen.“

c) Ich habe in meinen Entwürfen dann immer mit dem Begriff „Tretmine“ (i.S.v. Hundekot) gearbeitet. Eine „Tretmine“ als etwas, wo ich „reintrete“, was ich zunächst mal gar nicht merke, aber hinterher den Geruch wahrnehme, anderen dadurch nur schwer nahekomme, beim Zurückschauen eine Spur entdecke, die ich hinter mir herziehe und die ich nur schwer und nur durch aktives Handeln aus dem Schuh bekomme.

d) Es gibt „Tretminen“, die im Erwachsenenalter passieren. (Scheidung, Seitensprung …). „Die sollen uns heute nicht interessieren.“

e) „Es gibt aber auch Tretminen, die durch meine Fehler in der Jugend passieren. Tretminen, in die ich aktiv reintrete, die aber spätere Sexualität erschweren. Welche könnten das sein?“ Hier werden die Teenager sicherlich auf unterschiedliche Antworten kommen. Es ist didaktisch wertvoll, sie hier in die Breite gehen zu lassen.

Oft sagen sie zuerst:

  • keine Ausbildung
  • Alkohol- und Drogensucht

Dann kommen oft intimere Themen wie:

  • Seitensprünge
  • Partnerwechsel
  • Sex

f) Hier ist es dann gut, wenn der Leiter den Schwerpunkt für heute auf Identität und Intimität legt. Ich teile die „Tretminen“ dann in fünf Themen ein. Ich mache dem Leiter Mut, sie in Form eines Schaubildes darzustellen (Abb.1) oder sich eine physische Veranschaulichung zu überlegen. (Bsp. Hindernisparcours im Raum mit fünf Hindernissen)

  1. Bindungs-/Beziehungsunfähigkeit und Unfähigkeit zur Intimität, meist ausgelöst durch eine schwere Kindheit, die ich in der Jugendzeit aufarbeiten müsste, es aber nicht tue. Darunter fasse ich bewusst auch immer die Medienabhängigkeit („Nerds reden selten über Gefühle …“) mit der ich mich „tröste“, aber an meinem Charakter nicht weiterkomme.
  2. Ego-Sex, der zu Ich-bezogenen Vorlieben führt (Pornografie, Selbstbefriedigung als Problemlöser, Fantasien und erotische Bilder, Tagträume, Hollywoodschnulzen, überhöhte Romantikideale …)
  3. Vertrauensverlust durch Verletzungen (Trennungen und Enttäuschungen)
  4. Verfrühte Intimität, die zu schnell, unter Druck oder Manipulation geschieht (erstes Mal wider Willen, Sex ohne Ehe, Petting mit dem Falschen, Knutschen im Suff …)
  5. Falsche Partnerwahl (nicht gläubige Partner, falsches Timing, psychische Abhängigkeit vom anderen, völlig verschiedene Interessen, charakterliche Defizite – „es gibt auch christliche Vollpfosten“)

An dieser Stelle nun ist der „archimedische“ Punkt des Abends. Denn die Jugendlichen sitzen vermutlich da und überlegen: „Was ist mein Thema? Wo bin ich gefährdet? An welchem Hindernis könnte ich hängen bleiben? Was ist gerade für mich dran?“ Zugleich passieren in den Herzen der Jugendlichen einige wichtige Lernschritte:

  • „Sexualität fällt nicht vom Himmel. Es gibt Stolperfallen, die in meinem Gestaltungsbereich liegen.“
  • „Es gibt viele Herausforderungen. Wenn ich mit einem der Bereiche Schwierigkeiten habe (z. B. Selbstbefriedigung, Partnerwahl …), muss ich mich nicht schämen. Andere haben andere Sorgen.“
  • „Man kann, wenn man verallgemeinert, offen über jedes intime Problem vernünftig sprechen. Also könnte ich im seelsorgerlichen Rahmen auch offen über mein Problem mit dem Leiter reden, ohne verurteilt zu werden.“
  • „Mein Leiter hat mir hier die Breite möglicher Gefährdungen präsentiert. Ihm ist eindeutig und ehrlich an meinem Wohlergehen gelegen. Er nimmt mir also nichts weg. Ich lasse zu, dass er fortfährt, auch wenn es mich betreffen sollte. Wenn es mich nicht betreffen sollte, dann höre ich zu, denn es könnte ja mein Thema werden oder es könnte ja meine Freunde betreffen.“

Schritt 3: In die Tiefe gehen anhand eines Beispiels

An der nächsten Stelle könnte der Leiter nun jedes der angerissenen Probleme vertiefen. Es ist dann für die Kinder und Jugendlichen plausibel und relevant. Das könnte so lauten: „Wir könnten über jeden der Bereiche, über jedes der speziellen Themen in den Bereichen sprechen (ggf. Zettelbox mit Lieblingsthemen zur Abstimmung für künftige intime Themen hinstellen). Das schaffen wir heute nicht. Deswegen will ich mit euch jetzt mal an einem Punkt in die Tiefe gehen. Heute ist das ein Thema, was sowohl in den Bereich 1 – Beziehungsfähigkeit aufarbeiten – als auch in den Bereich 4 – Verfrühte, verletzende Intimität – gehört: Das Thema ist ‚Missbrauch‘. Einverstanden?“

Bibeltext: Amnon missbraucht Tamar

2. Samuel 13,1-22 wird ggf. in Gruppenarbeiten zur Lektüre und Beantwortung untenstehender Fragen (linke Spalte) vorgelegt. Wenn die Ergebnisse präsentiert werden, ist es wichtig, dass der Leiter die Ergebnisse bündelt. Nach jedem Punkt bietet es sich an, dass der Leiter eine Übertragung in die Lebenswirklichkeit der Kinder versucht – möglichst locker und in moderierter Atmosphäre.

Schritt 4: Klammer zur Einleitung und Verweis auf Gesprächsmöglichkeit

„Erinnert euch an die fünf Bereiche. ‚Missbrauch‘ ist etwas, was wie eine Tretmine viel später immer noch wirkt und eine Beziehung schwer machen kann. Es gibt nicht nur den Missbrauch, wie ihn Amnon getan hat. Es gibt auch einen Missbrauch mit Worten, es kommt auch vor, dass jemand – ein Gleichaltriger oder Älterer – uns zu etwas drängt, was uns überfordert und unser ‚Nein‘ übergeht. Das zerstört Vertrauen. Ich mache euch Mut, dass ihr – wenn ihr irgendeine Verletzung in diesem ganzen Bereich erlebt habt, noch mal mit mir oder einem anderen Mitarbeiter redet.“ Anmerkung: Es bietet sich nicht unbedingt an, dass der Leiter dann noch mal auf die anderen Bereiche (Ego-Sex, Partnerwahl …) hinweist. Betroffene Jugendliche werden sich – wenn sie es möchten – an den Jugendleiter wenden.

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